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Ein Beitrag von Siggi Richter:

Krabat: Lese- und Lebetage (nach Otfried Preußler)

Lang war die Anreise eigentlich nicht, und doch – als die Knaben nach mehr als zweieinhalb Stunden ankamen, fanden sie weder Fernseher noch Handy, weder Mikrowelle noch Kühlschrank – aus dem 21. Jahrhundert, dem sogenannten modernen Zeitalter, blieb kaum noch etwas übrig. Die Gruppe wurde in zwei Schlafsälen untergebracht, richteten ihr Quartier zwischen den dicken Wänden des 18. Jahrhunderts ein. Schließlich trafen sie sich in einem großen, gemütlichen Raum neben der Küche, in dem einer der Lehrlinge schon ein großes Feuer vorbereitet hatte. Fortan sollten sie bei einem lauten Pfiff flugs zu dieser Stelle begeben, um die Anweisungen für den weiteren Verlauf des Tages zu erhalten.

Wenn keine Arbeit anstand, waren sie frei, durften lesen, spielen oder den Ort erkunden. Bis zum Abend sollten jedoch alle das Buch bis zur vereinbarten Stelle lesen. Wann und wo, das war ihre Sache.

Zunächst mussten die Pferde nach Hause geholt werden : Sie standen noch im Garten, etwa eine halbe Meile von dem Bauernhof entfernt. Zwei nutzten die Gelegenheit, sich von den großen Tieren tragen zu lassen, andere wiederum verbrachten den Spaziergang mit einer Schneeballschlacht.

Anschließend sollte ein Handwerk erlernt werden. Entweder konnte man in die Schmiede, in den Steinofen, in die Gerberei oder die Küche. Während zwei Stunden hörte man die rhythmischen Schläge der Hämmer auf dem Amboss aus der Schmiede, standen andere in der eisigen Gerberei und feilten Tierhäute, schnitten und flochten sie zu Armbändern, packten andere wiederum Reisig in den Steinofen und entfachten ein Feuer, während in der Küche Gemüse geschnitten und Pizzateig geknetet wurde.

Das Abendessen war reichlich und lecker, doch musste darauf hingewiesen werden, dass Verschwendung von Nahrung im 18. Jahrhundert unannehmbar sei – und, wenn es von uns abhinge, im 21. Jahrhundert auch. Zum Abschluss erzählten sich die Burschen Geschichten, spielten Werwolf, und gingen schließlich zu Bett.

Am nächsten Morgen wurde ab sieben Uhr Suppe gekocht und Brötchenteig geknetet. Der Bäcker hatte fünf Brote für das Frühstück gebacken. Einige kümmerten sich um das Feuer im Ofen, andere brachten dem Schwein die Reste vom Abendessen. Jeder knetete und formte schließlich einige Brötchen, die dann beim Frühstück untereinander geteilt wurden, sodass kein Krümel übrig blieb.

Dann machten wir uns auf den Weg zur Mühle, etwa fünf Meilen vom Bauernhof entfernt. Schnee lag auf den gefrorenen Feldern, der Frost biss an der Nase und den Fingern und ein eisiger Wind blies den Jungen um die Ohren ; abwechselnd trugen immer zwei den Suppentopf, während ein anderer den Brotkorb in der Hand schwenkte. Es schien den Burschen nichts auszumachen, fröhlich erzählten sie miteinander, warfen ab und an einen Schneeball, traten gegen Baumstämme und zogen an Ästen, um ihren Freunden den Schnee, der in dicken Schichten auf den Bäumen lag, in den Kragen fallen zu lassen. Der Weg führte über einen Hügel, einem Bach entlang ins Tal, über eine Brücke, dann wieder einen beschneiten Hügel hinauf, von dem man eine wunderbare Aussicht über die weiße Landschaft hatte. Die Lehrlinge stöhnten unterdessen, ihnen war kalt, ihre Füße nass, die Schritte wurden immer mühsamer. Als die Mühle endlich in Sicht war, stand es ihnen frei, weiter dem Weg zu folgen oder den letzten Abschnitt querfeldein, über Wiesen und einen Bach, zu bewältigen. Die meisten sprangen sofort über den Zaun, liefen drauflos – und stellten fest, dass der kürzeste Weg nicht immer der einfachste ist – und der einfachste wiederum nicht immer der abenteuerlichste.

Die Suppe wurde dann in der Müllerstube gegessen, wo sich alle um den einzigen Ofen der Mühle versammelt hatten. Es gab dazu Brot mit Käse ; zum Nachtisch brachte die Müllerin Kekse. Auch hier lasen die Schüler einige Kapitel im Buch, während im Hintergrund die dumpfe, beruhigende Musik der Zahnräder und der Mühlsteine erklang. Vorher hatten alle die Mühle besichtigt, vom Königsrad im Keller bis zum Sieb auf dem Speicher, von dem Mühlgang im Herzen der Mühle bis zu dem Wasserrad an der Außenseite, das die ganze Mühle antreibt.

Während des Rückweges tauchte die untergehende Sonne die Landschaft in ein prächtiges Orange. Kaum angekommen, wurden Füße und Hände beim Ofen gewärmt, frische und trockene Kleidung übergestreift, Socken getrocknet und ein warmer Platz zum Lesen ausgesucht. Zum Abendessen gab es Nudeln mit Speck in Sahnesoße. Die Nudeln wurden übrigens, genau wie der Pizzateig, die Brote, Kekse und Brötchen aus dem Mehl der Mühle hergestellt. Es herrschte eine gesellige Zufriedenheit – denn um glücklich zu sein, braucht man nicht mehr als etwas Wärme, einige Freunde, ein leckeres Abendmahl und ein gutes Buch. Man erzählte sich gegenseitig, was in Krabats Mühle geschehen war, stellte Vermutungen an, hätte dies oder jenes anders gemacht als die Mühlknappen im Buch. Schließlich lasen alle gemeinsam die letzten Kapîtel des Buches, schauten dann den Film zum Buch und gingen zuletzt erschöpft ins Bett.

Am nächsten Morgen ging der Tag für einige Freiwillige schon um fünf Uhr los : Es galt, zum Frühstück Pfannkuchen zu backen. Nach und nach stolperten die Lehrlinge schlaftrunken in den Raum, aßen ihre Pfannkuchen, spülten ihren Teller und begaben sich schließlich gemeinsam zur Bushaltestelle, wo sie gerade rechtzeitig ankamen.

Was an jenem Freitagabend geschah, als alle wieder daheim eintrafen, darüber können nur Vermutungen ausgesprochen werden. Vielleicht eignet sich da ein Zitat aus dem Buch :

« Wie ein Klotz schlief er, schlief und schlief – bis ein Lichtstrahl ihn weckte. »
» Überdies musst du wissen, dass niemand in dieser Schule zum Lernen gezwungen wird. Prägst du dir etwas ein, so ist es zu deinem Nutzen - andernfalls schadest du nur dir selber, bedenke das. « Otfried Preußler